Babelsberger Thesen

Acht Thesen zur künstlerischen Forschung
- Die künstlerische Praxis ist das Spuren einer Spur: Sie geht keinen Weg auf einen schon bekannten Punkt hin. Sie orientiert sich im Gehen, öffnet Räume und reißt neue Horizonte auf.
- Die künstlerische Reflexion ist eine Art, sich selbst ins Handwerk zu schauen, sich zu vergleichen, sich Kontexte anzusehen und mit anderen Sichtweisen ins Gespräch zu kommen. Die reflexive Arbeit schärft Entscheidungen und inspiriert den Mut, sich im Spuren einer Spur zu erfinden und selbst zu behaupten. Sie hält den Widerspruch lebendig und bestärkt die Schwungkraft der Bewegung.
- Die künstlerische Arbeit kann das Feld der Theorie in Anspruch nehmen, um den Horizont der Gegenwart auszuleuchten, die Tiefe der Geschichte zu erschließen, Fragen zu fokussieren oder einfach um Impulse aufzunehmen. Die künstlerische Formfindung und Formgestaltung muss darin aber eigenständig bleiben. Wenn sie bloß Anwendung, Inszenierung oder Visualisierung einer Theorie ist, schöpft sie ihr Potenzial nicht aus.
- Die künstlerische Forschung führt zu einem fundamentalen Wissen, das sich vom Wissen der Wissenschaften und der Technologien unterscheidet: Es folgt seinen eigenen Gesetzen und Kriterien, es hat seine eigenen Sprachen, Werkzeuge und Vorgehensweisen.
- Nicht nur das Wissen, sondern auch die Kriterien, nach denen etwas als Wissen zählt, verändern sich in der Geschichte. Ebenso verändert sich auch das Verhältnis von Künsten, Wissenschaften und Technologien.
- In ihrer jetzigen Konstellation haben die Wissenskulturen wieder die Chance eines produktiven Dialogs. Die Bedingung dafür ist, dass sie sich als verschiedene Arten, die Welt zu beschreiben und zu gestalten, wechselseitig respektieren. Nur wenn die Wissenschaften und die Künste einander auf Augenhöhe begegnen, kann ein konkreter Funkenflug zustande kommen.
- Das Denken der Wissenschaften kristallisiert sich in der Sprache der Begriffe. Die Künste denken dagegen piktoral, skulptural, tonal/atonal oder auch szenisch, in einer Rhetorik der Bewegung und der Geste. Keine dieser Sprachen lässt sich auf die andere reduzieren, ihr Spannungsbogen baut sich immer wieder anders auf und eben darin bleibt ihr Dialog in ständiger Bewegung.
- Künste und Wissenschaften können sich in der Begegnung mit dem Unbekannten treffen, gehen dann aber oft getrennte Wege weiter: Die Wissenschaften stellen die Bewegung des Erkennens in der Erkenntnis fest, sie haben die Tendenz, Methoden und Erkenntnisse in einen abgesicherten Bestand zu übertragen. Die Künste zeigen dagegen Wege, das Bekannte für sich unbekannt zu machen und es neu wieder zu entdecken. Im Dialog der Künste und der Wissenschaften können beide Seiten voneinander lernen.
© Prof. Dr. Stefan Winter
Verfasst 2017, erstmalig veröffentlicht im Rahmen des Seminars „Zeitspuren. Zur Idee der künstlerischen Forschung“ an der Filmuniversität, SoSe 2017, überarbeitet im Herbst 2020.