In den letzten Jahren lässt sich in verschiedenen audiovisuellen Medien eine bemerkenswerte Popularität kontrafaktischer Darstellungen des Nationalsozialismus feststellen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die erzählten Ereignisse eindeutig und erkennbar vom historischen Geschehen abweichen. Lange als B-Movies und Genre-Literatur ein Nischendasein fristend, erreichen sie inzwischen ein breites Publikum. Die Freiheit, die Spielfilme wie INGLOURIOUS BASTERDS (US 2009) oder Fernsehserien wie THE MAN IN THE HIGH CASTLE (US 2015–) dabei im Umgang mit der Vergangenheit an den Tag legen, sperrt sich gegen die Anforderungen, die die Diskussion um die filmische Repräsentation des Nationalsozialismus bestimmen: Der Entwurf kontrafaktischer Szenarien unterminiert die Frage nach einer angemessenen Abbildung historischer Wirklichkeit. Ihr scheinbar sorgloser Umgang mit den Ikonen des Nationalsozialismus unterläuft das didaktische Anliegen, das solchen Erzählungen häufig zugrunde gelegt wird. Gegenüber den Konventionen der Erinnerungskultur bilden kontrafaktische Erzählungen daher eine Geste der Provokation. Ihr ästhetisches Spiel mit den Zeichen des Nationalsozialismus und seiner Überlieferung lässt sich dabei als symptomatischer Ausdruck eines vielfach attestierten gedächtnisgeschichtlichen Wandels deuten.
Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus bieten ein Forschungsfeld, in dem sich politische, historische und ästhetische Fragestellungen überkreuzen. Zur Erkundung des Terrains, dessen wissenschaftliche und kritische Diskussion bislang noch aussteht, fächert der interdisziplinär angelegte Sammelband Schlechtes Gedächtnis die Bandbreite kontrafaktischer Darstellungen des Nationalsozialismus in audiovisuellen Medien auf und stellt verschiedene Problemfelder und Deutungsansätze vor. Neben alternativhistorischen Szenarien werden Zeitreise-Erzählungen, Parodien und künstlerisch orientierte Beispiele diskutiert. Auch mediale Grenzphänomene wie Comics, Computerspiele und Populärliteratur werden behandelt.
Dr. Lea Wohl von Haselberg, Mitherausgeberin des Bandes (zusammen mit Johannes Rhein und Julia Schumacher), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Masterstudiengang Filmkulturerbe der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF und Leiterin des BMBF-Forschungsprojekts „Zwischen Erinnerungskultur und Antisemitismus. Selbstverständnis und Erfahrung jüdischer Filmschaffender in der BRD“.