Ellen Richter (*1891 in Wien; †1969 in Düsseldorf) zählte zu den produktivsten und prominentesten Stars im deutschen Kino der 1910er und 1920er Jahre, deren Erfolg weit über die Landesgrenzen hinausreichte. Die aus einer jüdischen Familie stammende Schauspielerin kam 1913 über die Bühne zum Film. In den nächsten zwanzig Jahre stand sie siebzig Mal in Hauptrollen vor der Kamera. 1920 gründete Ellen Richter mit ihrem Ehemann und engsten Mitstreiter, dem Drehbuchautor und späteren Regisseur Willi Wolff (*1883 in Schönebeck [Elbe]; †1947 in Nizza), eine eigene, unabhängige Produktionsfirma. Auch dadurch wurde ihr Name zur wiedererkennbaren Marke.
Fast vierzig abendfüllende Spielfilme gingen auf das Konto der Ellen Richter-Film. Es entstanden Kostüm- und Historienfilme (MARIA TUDOR [1920]; LOLA MONTEZ, DIE TÄNZERIN DES KÖNIGS [1922]), Boulevardstücke (DIE SCHÖNSTEN BEINE VON BERLIN [1927]; MORAL [1928]), Krimis (SCHATTEN DER WELTSTADT [1925]; DIE DAME MIT DEM TIGERFELL [1927]) und Melodramen (KOPF HOCH, CHARLEY! [1926]). Die Spezialität der Firma war aber eine einzigartige Genre-Mischung aus Abenteuer- und Reisefilm, die sich in einer Reihe von groß angelegten mehrteiligen Produktionen wie DIE ABENTEUERIN VON MONTE CARLO (1921), DIE FRAU MIT DEN MILLIONEN (1923), DIE GROSSE UNBEKANNTE (1923) und DER FLUG UM DEN ERDBALL (1925) offenbarte.
Dank ihrer Theaterausbildung überstand Richter Anfang der 1930er Jahre den Wechsel zum Tonfilm. Sie spielte in vier Tonfilmproduktionen mit – DIE ABENTEURERIN VON TUNIS (1931), STRAFSACHE VAN GELDERN. WILLI VOGEL, DER AUSBRECHERKÖNIG (1932), DAS GEHEIMNIS UM JOHANN ORTH. EIN LIEBESROMAN IM HAUSE HABSBURG (1932), MANOLESCU, DER FÜRST DER DIEBE (1933) – bevor die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ihre Filmkarriere vorzeitig beendete. Wenig später flüchteten Richter und Wolff ins Exil, wo sie die Judenverfolgung und den Holocaust überlebten. Im Exil geriet der einst berühmte Star des deutschen Stumm- und frühen Tonfilms in Vergessenheit, was sich auch nach Kriegsende nicht änderte.
In der auf „Kunst“ und soziale Fragen fokussierten traditionellen Filmgeschichtsschreibung gab es schlicht keinen Platz für die Form der publikumsorientierten Unterhaltungsware, in der Ellen Richter reüssierte, und ihr Name findet keine Erwähnung in Standardwerken zur deutschen Filmgeschichte. Auch die Revision dieser Filmgeschichtsschreibung in den letzten vierzig Jahren hat diese Lage kaum verbessert: das Leben und Werk Ellen Richters wurde bislang kaum erforscht und es liegen keinerlei Fachpublikation zu ihr vor. Selbst im wichtigsten Lexikon zum deutsch- bzw. deutschsprachigen Filmerbe, dem CineGraph-Lexikon, fehlen bis heute Einträge zu Ellen Richter und Willi Wolff.
Der Großteil von Ellen Richters Filmen gilt als verschollen. Die raren und teilweise gefährdeten Originalmaterialien, die in Archivbeständen die Zeit überdauert haben, sind in vielen Fällen konservatorisch nicht gesichert und bleiben so selbst für Fachleute unzugänglich. Von den zugänglichen Titeln sind lediglich drei im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts auf prominenten Filmerbe-Festivals präsentiert worden: LOLA MONTEZ, DIE TÄNZERIN DES KÖNIGS (Il Cinema Ritrovato 1996), SCHATTEN DER WELTSTADT (Il Cinema Ritrovato 2007 und Berlinale 2008), DAS BACCHANAL DES TODES (Il Cinema Ritrovato 2017). Und nur ein einziger Ellen Richter-Film wurde seit den 1990er Jahren von einem europäischen Fernsehsender ausgestrahlt und auf DVD veröffentlicht: DER FLUG UM DEN ERDBALL (Ausstrahlung: Arte 1997, Veröffentlichung: Lobster Films Paris 2002-2007). Richters filmisches Werk ist also bis auf wenige Ausnahmen faktisch unsichtbar geblieben.
Um diese Lage zu verbessern, veranstalteten Oliver Hanley und Philipp Stiasny mit einer Förderung des Fonds für Forschung und Transfer der Filmuniversität Babelsberg den internationalen wissenschaftlichen Workshop Die große Unbekannte. Ellen Richter und das populäre Kino in Deutschland 1913-1933, der von 4. bis 6. Juli 2019 im Deutschen Historischen Museum in Berlin stattfand. Der Workshop diente als erster Schritt zur Wiederentdeckung und wissenschaftlichen Neubewertung von Ellen Richter und ihren Filmen. Gleichzeitig diente die Veranstaltung dazu, die etwa 30 Nachwuchswissenschaftler*innen (Post-Docs, Doktorand*innen, Masterstudent*innen) und Professor*innen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Spezialgebieten sowie Fachleute (Historiker*innen, Archivar*innen, Restaurator*innen) miteinander zu vernetzen.
Das Format bestand aus einer Mischung aus Filmsichtungen bzw. Vorführungen sowie Vorträgen und moderierten Diskussionen. Dank der Unterstützung von verschiedenen Filmarchiven und Rechteinhabern standen zehn der überlieferten Filme Ellen Richters für die Veranstaltung zur Verfügung. Somit konnte das Schaffen Ellen Richters auf exemplarischer Weise überhaupt erst in den Blick bekommen werden. Durch die gemeinsame Sichtung und Reflexion über die Filme im geschlossenen Rahmen wurde ein wichtiger aber bislang unzureichend erforschter Bereich des Weimarer Kinos beleuchtet und neue Kenntnisse darüber gewonnen.
Die Teilnahme am Workshop erfolgte auf persönliche Einladung und war für die Teilnehmer*innen kostenfrei. Der geschlossene Teil des Workshops wurde um zwei öffentliche Abendvorführungen am 5. und 6. Juli im Zeughauskino bzw. im Filmmuseum Potsdam erweitert. Letztere fand dank einer Anschlussförderung durch das Brandenburgische Zentrum für Medienwissenschaften (ZeM) statt. Am Freitag, 5. Juli, präsentierte der Verein CineGraph Babelsberg die Komödie DER JUXBARON (1926/27) im Rahmen seiner monatlichen Filmreihe Wiederentdeckt. Es handelt sich um eine der wenigen Produktionen der Ellen Richter-Film, in der Ellen Richter nicht als Schauspielerin zu sehen ist (dafür aber die junge Marlene Dietrich in einer ihrer ersten großen Rollen). Die amerikanische Filmwissenschaftlerin Anjeana Hans (Wellesley College Massachusetts) führte in den Film ein. Am Folgetag zeigte das Filmmuseum Potsdam als Abschlussveranstaltung den einzigen Film Ellen Richters, der vor 2019 einer aufwändigen Restaurierungsarbeit durch eine deutsche Filmerbe-Einrichtung unterzogen wurde: SCHATTEN DER WELTSTADT. Ergänzt wurde die Vorstellung um einen einführenden Vortrag von Anke Wilkening, die 2006 für die Restaurierung des Films durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung verantwortlich war.