Was wird heute eigentlich unter Fernsehen verstanden? Welche gesellschaftlichen Themen werden über Fernsehformate kommuniziert und verhandelt? Wie positionieren sich Publikum und Nutzer*innen und wie kann das erforscht werden? Welche Marktdynamiken verbergen sich hinter bestimmten Branchenmythen?
Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich die internationale Tagung “Redefining Televisuality: Programmes, Practices, Methods” an der Filmuniversität (zum Gesamtprogramm). Die von Prof. Dr. Susanne Eichner, Professorin für Analyse und Ästhetik audiovisueller Medien, und Lisa Plumeier organisierte Tagung ist eine Veranstaltung der Sektion TELEVISION STUDIESunter dem Dach der European Communication Research and Education Association (ECREA) und gilt als eine der wichtigsten wissenschaftlichen Veranstaltungen in diesem Feld. Drei Tage diskutierten mehr als 60 Wissenschaftler*innen aus 18 Ländern - darunter Chile, Australien, Tschechische Republik, Italien Türkei, Spanien, Finnland oder USA - über die Herausforderungen des Mediums Fernsehen in einem sich verändernden technologischen, politischen und sozialen Umfeld: über Formen, Genres und Formate, Branchendynamiken und Arbeitsbedingungen, Publikum und Nutzungspraktiken sowie aktuelle fernseh- sowie medienwissenschaftliche Fragestellungen. Der Blick der Forscher*innen reichte dabei von klassischem Rundfunkfernsehen über Mediatheken und Streaming Plattformen bis hin zu neuen Formen der Unterhaltung auf Social Media Plattformen wie TikTok.
Mit seiner Opening Keynote “Televisuality in the Platform Era?: Golden Ages, Industry Stress Research, and Collateral Damage”, fokussierte John T. Caldwellauf das Zusammenspiel von Form und Herstellungsbedingungen sowie auf die konkreten Arbeitsbedingungen und Praktiken in einer sich wandelnden Branche, die laut Caldwell in weiten Teilen auch auf unbezahlter kreativer Arbeit basiert. Der Distinguished Research Professor für Cinema & Media Studies an der UCLA, Los Angeles (USA) gilt als eienr der Begründer der “Production Studies” und sein 1995 erschienenes Buch “Televisuality” stand Namenspate für die Konferenz.
Karin van Es Associate Professor für Media & Culture Studies und Projektleiterin der Humanities Data School an der Universität Utrecht (Niederlande), diskutierte in der zweiten Keynote das Verhältnis zwischen Streaming Plattformen und linearem Fernsehen. Dabei entlarvte sie den Netflix-Hype - basierend nicht zuletzt auf dem Glauben an Big Data - als Mythos und argumentierte, dass der Wandel in der Fernsehbranche wesentlich langsamer und weniger linear erfolgt, als es manchmal dargestellt wird. Sie bezeichnet diesen von Netflix kolportierten Mythos als “konzeptionellen Unschärfe” und plädierte für ein erweitertes Verständnis darüber, was Fernsehen ist und eine damit verbundene Notwendigkeit, mehr empirische Forschung in und über die Medienbranche zu betreiben. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Perspektive für die Fernsehpraxis betonte auch Filmuni-Professor Jan Kromschröder in seinem initialen Grußwort. Sie erlaube einen besseren Überblick und eine spezifische Perspektive. Darüber hinaus thematisierte der Geschäftsführer der beiden Kölner Produktionsfirmen „Bantry Bay“ und „Seapoint” die aktuellen Auswirkungen von Inflation, Preiserhöhungen und Publikumsumschichtungen auf die Branche.
Ein Industry Roundtable ermöglichte einen direkten Austausch zwischen der deutschen Fernsehbranche und den internationalen Wissenschaftler*innen. Zu Gast waren Christine Hartmann, Produzentin bei studiozentral, und verantwortlich für die ZDF Jugendserie ECHT, Thilo Kasper, der bei der ARD für die Strategie der Mediathek zuständig ist, Jennifer Mival, Professorin für Entertainment Producing an der ifs (internationale filmschule köln) und Jörn Winger, Geschäftsführer Big Window Productions und Produzent der preisgekrönten Deutschland-Reihe (RTL und Amazone Prime Video) sowie Sam, ein Sachse (Disney+). Die Moderation übernahm Prof. Dr. Susanne Eichner, die die Veranstaltung an die Filmuni holte. Ihr Fazit: "Fernsehen, das wurde auf der Konferenz deutlich, ist ein dynamisches, sich wandelndes Medium, das sich unaufhörlich den neuen technologischen Bedingungen, Marktentwicklungen und Nutzungspraktiken anpasst. Klar ist spätestens nach der Konferenz auch: Das eine Fernsehen gibt es längst nicht mehr. Es hat sich um eine Vielzahl an fernsehartigen Angeboten aufgefächert und fragmentiert. Und die Tagung brachte auch Überraschendes ans Licht: Im Erleben der Nutzer*innen gleicht die “Endless Scrolling” Struktur von TikTok dem des Fernsehflows im klassisch-linearen Fernsehen. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es also auch jede Menge Ähnlichkeiten."