5. TRANSDISZIPLINÄRES KOLLOQUIUM „MUSIK UND TON IN GEGENWÄRTIGEN UND ZUKÜNFTIGEN NARRATIONEN“

Datum / Dauer:
16.06.2009
Zeit:
17:00

NACHLESE ZUM 5. TRANSDISZIPLINÄREN KOLLOQUIUM „MUSIK UND TON IN GEGENWÄRTIGEN UND ZUKÜNFTIGEN NARRATIONEN“

16.06.2009

Leerstellen und Asynchronitäten stellten sich als das Leitmotiv des 5. Kolloquiums zum Thema Musik und Ton mit Komponist und Regisseur Heiner Goebbels und Mischtonmeister und HFF-Vizepräsident Martin Steyer am 15. Juni 2009 heraus.

 Zuerst stellte der renommierte Filmmischtonmeister, HFF-Professor und –Vizepräsident Martin Steyer seine Perspektive auf die Dialektik von Autorschaft und gemeinsamen Schaffensprozess bei der Herstellung eines Filmes dar.

„Von zentraler Wichtigkeit ist die Balance zwischen individueller Inspiration der einzelnen Gewerke und dem beständigen Ventilieren der Uridee, die sich im Prozess präzisiert und sich unter Umständen natürlich auch verändert, aber, aber auf jeden Fall, äh, den Kern darstellt.“ (Martin Steyer beim 5. TK)
Er rundete seine Ausführungen mit einer kritischen Betrachtung neuer technischer Entwicklungen im Tonbereich ab (wie z.B. der Wellenfeldsynthese) und wie sich diese zur Kunstproduktion verhalten und kam darüber zum ersten Mal auf die „Leerstellen“ zu sprechen.

„Kann die möglichst originalgetreue Abbildung und damit die Verwischung des Abbildcharakters der Kunst das Ziel von Kunstproduktionen sein oder liegt nicht gerade im auswählenden und deutendem Ansatz der Schlüssel für künstlerische Äußerung? Wir wissen ja, dass, um mal ganz einfache Beispiele zu nennen, Bildquatrage oder Auswahl von Tonereignissen im Film eine wichtige Funktion der Fokussierung, der Lenkung, und der Art, wie ich eine Geschichte erzähle oder auf welche Art, mit welcher Dramaturgie haben. Ja, das ist die eine Frage für die Macher, die zweite Frage ist: Führt die Quasi-Realität nicht zur Inaktivität des Zuschauers und Zuhörers?  Sind es nicht die zu füllenden Leerstellen, die ein aktives Erleben von Kunstereignissen ermöglichen und so den Zuschauer in den Dialog treten lassen? Das ist für mich eigentlich der zentralste Punkt beim ganzen Filmerzählen, weil man durch Freistellen - „voids“ sagen die Amerikaner dazu - die der Zuschauer überbrücken muss, um den Film überhaupt zu rezipieren; dadurch erzeugt man einen Effekt, dass der Zuschauer im Sitz zur Leinwand hin, sozusagen forschend oder aktiv nachvollziehend oder aktiv sich einbringend, sich bewegt, während bei einer komplett gezeugten Realität in ihrer Komplexität eher die Tendenz des sozusagen In-Den-Sessel-Gedrückt-Werdens auftritt und das natürlich eigentlich das ist, was man nicht gebrauchen kann. Man kann es mal als eine Wirkung benutzen, aber es ist für einen Dialog mit dem Zuschauer, wenn man das so bezeichnen will, eher hinderlich. Also es geht eher darum, den Zuschauer zu animieren, sich sozusagen zuzuwenden und aktiv werden zu müssen. Da gibt es sehr kluge Leute: Walter Murch sagt zum Beispiel, man muss das so stretchen zwischen Bild und Ton, so weit es überhaupt nur geht, ohne dass es auseinander bricht. Das betrifft jetzt viele Punkte, die die praktische Arbeiten betreffen; da gibt es Asynchronitäten,  es hat ganz viel mit Weglassen zu tun, mit Dynamik zu tun und natürlich mit Fokussierung auf bestimmte Ereignisse und der Veränderung von bestimmten Ereignissen.“ (Martin Steyer beim 5. TDK)

Heiner Goebbels, der als Komponist und Regisseur in Frankfurt a.M. lebt und als einer der wichtigsten Kreativen der gegenwärtigen Musik- und Theaterszene gilt, stellte einige seiner Arbeiten vor und schloss dabei direkt an Martin Steyers Überlegungen zur Leerstelle an:

„Ich mache eher Musiktheater und mein Verhältnis zur Narrativität ist auch, weil das im Titel des Kolloquiums steht, ist gebrochen. Gertrude Stein hat einmal gesagt: „Everything which is not a story can be a play.“ Das ist durchaus sehr polemisch gemeint, gegen eine bestimmte Art von Plothörigkeit auch im Theater, gegen diese relativ lineare Dramaturgie. Das ist vielleicht so etwas wie ein Credo meiner eigenen Arbeit: [Meine Stücke so] glaube ich, so hoffe ich, voller Geschichten sind, aber nicht linearer Geschichten, nicht Geschichten, die ich glaube, Ihnen als den Zuschauern sozusagen Ihnen in ihrer Konstruktion vorgeben zu können, sondern Geschichten, die eben entstehen aus dem, was Sie, Herr Steyer, auch die Asynchronität von Bild und Ton genannt haben. Geschichten, die eigentlich erst im Betrachter entstehen können. Ich habe ein zweites Zitat von Gertrude Stein gerne immer wieder strapaziert, weil sie als eine der wenigen Theatermacherinnen und Autorinnen für Theater sehr stark die beteiligten Medien des Theaters reflektiert hat. Es gibt ein paar „Lectures in America“, die 1935 erschienen sind, die ich Ihnen empfehlen kann für den medientheoretischen Ansatz und da stellt sie zum Beispiel, ohne die Sachen zu beantworten, aber sie stellt sehr entscheidende Fragen, so zum Beispiel: „Is the thing seen or the thing heard the thing that makes most of its impression upon you at the theatre?“ Also ist das Hören oder das Sehen das Wichtigere und wie verhalten sie sich zueinander? Was macht das Sehen mit dem Hören? Was macht das Hören mit dem Sehen? Ganz entscheidende Fragen, die von ihr sehr früh gestellt wurden zu Beginn des Medium Film eigentlich. […]
Vielleicht ist es für unsere mediale Erfahrung ein existentieller Bestandteil, dass wir „delays“ brauchen, dass wir Abstände brauchen zwischen Ton und Bild, auch zwischen uns und dem Medium. Vielleicht kann ich ein bisschen was in der nächsten halben Stunde über diese Abstände erzählen, die ich mir immer wieder zum Thema mache, und vielleicht auch [etwas] erzählen über die Art und Weise wie ich versuche, das, was im Theater aber auch im Film und auch in anderen Medien, oft sozusagen nur illustrativer Bestandteil ist, also was Geräusch oder Musik ist, in einer Weise, die nicht, ihre eigenen Kräfte entfalten kann, wie ich versuche, das selbst zum Thema zu machen.“
 (Heiner Goebbels beim 5. TDK)

In der nachfolgenden Diskussion mit dem Publikum wurde das `gemeinsame Erfinden´(Goebbels) wieder aufgegriffen – sowohl im Theater als auch im Film, wobei Steyer kritisierte, dass dieser gemeinsame Prozess im Film bedauerlicherweise die Ausnahme sei. Auch wendete man sich nochmals den neueren technischen Entwicklungen im Tonbereich zu, wobei sich hier die Referenten und das Publikum weitgehend einig waren, dass Qulität und Gehalt des künstlerischen Werks nicht unbedingt vom Streben nach immer höherer Genauigkeit beim klanglichen Abbilden der Realität seitens der Ingenieure profitiert.