Seit diesem Semester hat die Filmuniversität für ein Jahr die zwei Gastprofessuren mit herausragenden Forscher*innen besetzt, deren Arbeit sich an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft bewegt. Beide sind dem Arbeitsschwerpunkt „Film und Wissen“ zuzuordnen: die Professur von Lucy Beech trägt diesen wörtlich in der Denomination, während die Professur von Boris Hars-Tschachotin sich spezifischer „Klimakommunikation in den audiovisuellen Medien“ beschäftigt.
In einem Interview erzählen die beiden von sich und ihren Projekten und Plänen für das Jahr in Babelsberg.
Können Sie uns in zwei Sätzen etwas über sich erzählen?
Beech: Ich interessiere mich für das Filmemachen als Werkzeug der künstlerischen Forschung und auch als Raum für Selbstorganisation und Gemeinschaftsbildung. Die Pandemie war eine wirklich herausfordernde und transformative Zeit; sie hat alle gezwungen, einschließlich mir selbst und den Forscher*innen, Akademiker*innen und Künstler*innen, mit denen ich zusammenarbeite, neue Wege zum Aufbau von Gemeinschaften und Formen des kollaborativen Austauschs zu finden. Im Moment arbeite ich an einem neuen Film, der von der erzählerischen Poesie von Eve Kosofsky Sedgwick inspiriert ist und dokumentarisches und fiktionales Material mischt, um eine alternative Geschichte westlicher Züchtungstechnologien, wie sie in der landwirtschaftlichen Viehzucht bislang üblich sind, zu erzählen.
Hars-Tschachotin: Ich wuchs ohne Fernseher auf und war mit neun Jahren dann zum ersten Mal im Kino. Ich sah GOLDRAUSCH von Charlie Chaplin auf großer Leinwand. Dieses Erlebnis der Projektion im dunklen Saal zusammen mit vielen Menschen, erinnere ich als einen tiefgreifenden Glücksmoment von großer Tragweite. Chaplin und sein Humor, seine Leichtigkeit, die Choreographie der Bilder begeisterte mich augenblicklich für die Kunstform Film und diese Begeisterung hält bis heute an.
Können Sie das Forschungsprojekt, das Sie während Ihrer Gastprofessur an der Filmuniversität Babelsberg durchführen, in kurz beschreiben?
Beech: Mein Forschungsprojekt habe ich als Artist in Residence am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte entwickelt, wo ich jetzt Fellow bin und weiterhin an einer Arbeitsgruppe teilnehme, die sich mit der Intimität beschäftigt, die in der Arbeit mit sogenannten Nutztieren und ihrer kontrollierten Reproduktion entsteht. Teil des Projekts ist ein experimentelles Schreibprojekt mit der Wissenschaftshistorikerin Tamar Novick. Daraus soll ein Skript für einen performativen Vortrag im Museum für zeitgenössische Kunst SALT Beyoğlu in Istanbul entstehen, der dann wiederum in ein Drehbuch umgewandelt wird, das dokumentarisches und fiktionales Material vermischt. Irgendwo zwischen einem narrativen Gedicht, einem Filmessay und einem fiktionalen Dokumentarfilm wird der Film die komplexe Neugestaltung von sexuellen Taxonomien, Praktiken und Identitäten im Kontext der Tierzucht erkunden.
Hars-Tschachotin: Mich treibt die Frage um: wie können die gewaltigen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, als Chance begriffen werden? Wie können dafür positive, vielleicht sogar humorvolle Narrativen entwickelt werden, die anregend wirken? Denn es muss doch noch andere Zukunftsbilder geben außer der Regression, dem Technofix oder der Apocalypse? Wie können wir aus diesen drei gängigen Stereotypen ausbrechen und wirklich neue, unverbrauchte Visionen einer Zukunft schaffen. Ein möglicher Schlüssel ist für mich der intensive Austausch mit Expert*innen aus Wissenschaft, Medien und NGOs in Verbindung mit der Methode des Worldbuilding.
Welche Seminare werden Sie an der Filmuniversität unterrichten?
Beech: Ich habe eine Arbeitsgruppe namens Hybrid Fictions mit einigen erstaunlichen und fantastischen Studierenden gebildet. Gemeinsam nähern wir uns der künstlerischen Forschung durch das Filmemachen als eine Methode des relationalen Denkens und Handelns. Indem wir die Erkenntnisse der feministischen, queer theory und der Science Studies in einen Dialog miteinander bringen, erforscht die Gruppe, wie hybride oder „vermischte Methodologien“ Fragen der Ontologie, Materialität, Verkörperung und Handlungsfähigkeit in den Vordergrund rücken können. Dies geschieht in der Absicht, Konventionen der Forschung und des Dokumentarfilms zu unterlaufen.
Um die Vielstimmigkeit unserer Arbeitsgruppe zu reflektieren, verfolgt jede*r von uns ihre*seine Forschungen mit Hilfe eines Online-Recherchetools namens „are.na“. Indem jede*r Teilnehmer*in die Plattform nutzt, entsteht eine nicht-lineare Karte unserer Verbindungen, Gespräche, Lektüren und Referenzen. Ich hoffe, dass jede*r so seinen individuellen Weg durch eine Fülle von kollektiv gesammeltem Material findet – was im Ergebnis unsere übliche Herangehensweise an forschungsbasierte Projekte herausfordern könnte.
Hars-Tschachotin: Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für unseren Planeten im 21. Jahrhundert. Aber noch gibt es die Möglichkeit, dass wir, wenn wir unser Handeln verändern, den Trend der Erderwärmung wenn schon nicht aufhalten, so zumindest verlangsamen. Dafür muss dieses Thema aber neu sichtbar gemacht, anders erzählt und sinnlich erfahrbar werden. Mein Seminar: „IS THE HOUSE ON FIRE? Neue audiovisuelle Strategien zum Thema Klimawandel“ betrachtet und hinterfragt die bisherige Kommunikation über den Klimawandel. Die Studierenden sollen als die Medienexpert*innen von morgen mit ihrer eigenen Arbeit die Klimatrendwende mitbestimmen und neue Wege der Kommunikation entwickeln.
Wird es die Möglichkeit geben, mehr über Ihre Forschung in einer Vorlesung oder einem Workshop an der Filmuniversität zu erfahren?
Beech: Ich werde irgendwann im Juni im Rahmen der Online-Seminarreihe „Experimentelle Narration / Film und Experiment“ von Christine Reeh-Peters und Hans Neubauer einen Vortrag über meine Forschung halten. Auch die Performance Lecture, die ich und meine Kollegin vom Max-Planck-Institut halten, wird im Juli live über die SALT BEYOĞLU-Website gestreamt. Darüber wird es demnächst hier eine Ankündigung geben.
Hars-Tschachotin: Jeden zweiten Dienstag im Monat wird es in diesem Sommersemester einen öffentlichen Impulsvortrag von den oben genannten Expert*innen geben, in dem wir die Themen des Klimawandels aus unterschiedlichen Richtungen diskutieren. Im Wintersemester wird diese Reihe fortgeführt. Meine Hoffnung ist, dass über dieses öffentliche Format ein breiterer Kreis an Interessierten an diesem brisanten Thema partizipieren können.
Was erwarten Sie von Ihrer Zeit an der Filmuniversität Babelsberg? Planen Sie weitere Kooperationen?
Beech: Für Anfang 2022 plane ich gemeinsam mit dem IKF ein Symposium. Diese Veranstaltung widmet sich der Arbeit einer Reihe von Filmemacher*innen, die das Format der „Performance Lecture“ als Werkzeug für die Entwicklung forschungsbasierter Filme und Drehbücher nutzen. Eine Gruppe von Künstler*innen wird einige solcher Performance Lectures und die Drehbücher, die sich aus diesen Performances entwickelt haben, präsentieren. Die Veranstaltungen und Screenings werden von einer Reihe von Gesprächen begleitet, die sich auf das Format als einer Verschränkung von Pädagogik und künstlerischem Diskurs konzentrieren.
Hars-Tschchotin: Ich freue mich sehr, dass wir bereits das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sowie das World Building Media Lab der University of Southern California School of Cinematic Arts (Prof. Alex McDowell und Juan Diaz Bohorquez) als Partner gewinnen konnten. Ich freue mich aber auch universitätsintern auf den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen.
Ausführlichere Informationen finden sich auf den Personenseiten von Lucy Beech und Boris Hars-Tschachotin. Um Näheres zur Programmatik der Gastprofessuren zu erfahren und für Kooperationsanfragen wenden Sie sich bitte an Donata Haag.
Mit Catalyn Brylla von der University of Bournemouth ist im laufenden Sommersemester ein weiterer Gastforscher an der Filmuniversität, der in seiner Arbeit Wissenschaft und künstlerische Praxis verbindet.